Olga Tokarczuk »Letzte Geschichten«

06.11.2006 Sprache/Meta

Olga Tokarczuk »Letzte Geschichten«Rezension

Triptychon mit dem Tod
Olga Tokarczuks »Letzte Geschichten«

»Letzte Geschichten« heißt der jüngste Roman der 1962 in Sulechow geborenen polnischen Autorin Olga Tokarczuk. Es sind drei für sich stehende Erzählungen, und zugleich ist es ein weiblicher Familienroman, denn die drei Geschichten dieses Roman-Triptychons erzählen von Mutter, Tochter und Enkeltochter und greifen so behutsam und unscheinbar ineinander, wie die unsichtbaren Glieder, die eine Familie auch dann noch zusammenhalten, wenn sich die Wege ihrer Mitglieder längst in verschiedene Richtungen verzweigt haben.

In der Eingangsgeschichte »Das reine Land« fährt die 54-jährige Ida, die Frau der mittleren Generation, von Warschau ins Riesengebirge, sie will noch einmal das Haus ihrer Eltern besuchen, das sie nach dem Tod der Mutter verkauft hat. Es ist Februar, seit dem ersten Frost hat es nicht getaut, der Schnee liegt hoch. Auf der Landstraße kommt Idas Wagen ins Schleudern, sie prallt gegen einen Baum. Sie scheint nicht ernsthaft verletzt, kann aber nicht weiterfahren. Mühsam schleppt sie sich zu einem allein stehenden Haus. Ein alter Mann und seine Frau leben dort, sie nehmen sie auf, als wäre auch sie eines der kranken, zum Sterben bereiten Tiere, die die beiden in ihrer Scheune untergebracht haben, um ihnen einen würdevollen Tod zu ermöglichen.

Das Vergangene noch einmal berühren

Jeder Versuch Idas, mit der Außenwelt zu kommunizieren (sie erreicht weder die Polizei noch ihre Tochter), scheitert – in sich selbst gefangen fällt sie aus Raum und Zeit. Ihre Gedanken verlangsamen sich, Erinnerungen steigen auf – an ihre Tochter, ihren Mann, ihre Mutter, die, während des Krieges aus der Ukraine vertrieben, noch ein einziges Mal an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrte. Und sie begreift, dass sie dasselbe zum Scheitern verurteilte Unterfangen hierhergeführt hat: Die Zeit umzukehren, um das Vergangene noch einmal zu berühren. Am Ende sitzt sie wieder im Auto, legt den Kopf auf das Lenkrad und schließt die Augen – und man weiß nicht, ist sie je ausgestiegen, oder hat sie alles nur halluziniert in der Sekunde des Aufpralls, den letzten Sekunden vor ihrem Tod?

Die zweite Geschichte, »Parka«, liegt in der Chronologie vor der ersten – die alte Paraskewia, Idas Mutter, ist noch am Leben. Eingeschneit ist auch sie, abgeschnitten vom Dorf, auf das sie von ihrem Haus herunterblicken kann, das aber unerreichbar ist, ja, dessen Bewohnern sie sich nicht einmal bemerkbar machen kann. Dabei wäre es notwendig – denn Petro, ihr Mann, ist gestorben und liegt jetzt steifgefroren auf der in den Hang gebauten Veranda. Und während sie die alltäglichen Dinge verrichtet, dem Toten die Sterbekerze anzündet, ihn rasiert und wäscht und in den verschneiten Hang den Satz »Petro ist tot« stapft, um die Dörfler vor dem Tauwetter nach oben zu locken, führt sie ein Selbstgespräch, das eine Beichte ist – sie erzählt ihr Leben.

Mit einem polnischen Lehrer verheiratet, gerät sie, obgleich Ukrainerin, ins Visier der Roten Armee und ihrer Grenzverschiebungspläne nach Westen; nach einer Galgenfrist, die sie sich durch ihren Körper beim kommandoführenden Offizier erkauft, wird sie mit Mann und Tochter deportiert – die Tochter stirbt unterwegs. Sie kommen in eine trübe Stadt, sind Fremde, bleiben es auch noch nach Jahren. Ihr Mann, der sich jetzt Pjotr nennt, kann nach einiger Zeit zwar wieder als Lehrer arbeiten, steigt sogar zum Schuldirektor auf, doch sie hat bis zuletzt Probleme mit der fremden Sprache, den fremdem Menschen und sehnt sich nach ihrer Heimat. Die Ehe ist unglücklich, und den Tod ihres ersten Kindes verwindet sie nicht.

Die Allgegenwart des Todes

In der dritten Geschichte, »Der Magier«, begegnen wir Maja, Idas Tochter und Enkelin der Paraskewia. Äußerlich ist sie eine moderne, der allgemeinen Mobilität gehorchende Frau – ihr »Zuhause ist der Weg, sie wohnt auf Reisen«. Sie hat ihre Unbehaustheit zum Beruf gemacht – als Reiseschriftstellerin fährt sie durch die Welt. Mit ihrem elfjährigen Sohn verbringt sie jetzt ein paar Tage auf einer Insel im Chinesischen Meer. Sie gehen tauchen, bewundern die fremdartige Unterwasserwelt, sammeln Muscheln, machen einen Ausflug zu einer nur von Riesenschildkröten bewohnten Insel.

Doch nachts überkommt Maja Sehnsucht nach der Heimat – schlaflos inmitten des lärmenden Urwalds und der schwülen Hitze der tropischen Insel liest sie in einem der Bücher, die sie um die halbe Welt begleiten. Sie liest vom Winter und seinem blassen Licht, von zugefrorenen Kanälen, der Rauheit eines Wollmantels, von seit der Kindheit vertrauten Gegenständen: Silberlöffeln, Wasserhähnen aus Messing, Porzellan. Es ist die unheimlichste der drei Erzählungen, durchwirkt von der Allgegenwart des Todes, der zunächst nur die Tiere trifft, der in Träumen erscheint, in Erinnerungen an die Großmutter, die die Mutter zum Sterben ins Haus holte.

Dann trifft ein weiterer Gast auf der Insel ein, ein Zauberkünstler, der ihren Sohn mit seinen Kunststücken in den Bann zieht. Kisz heißt er, ist Osteuropäer wie sie, und auch er ist ein Vertriebener, ein Nomade – der die junge Frau an ihren Vater erinnert. Fast erleichtert nimmt sie am Ende seinen Tod zur Kenntnis, der sie von dem Wiedergänger und ihren Erinnerungen erlöst.

Der Verlust der Kindheit

Tokarczuks Stil ist schnörkellos, ruhig, kühl. Er zeichnet das Wesentliche einer Figur, indem er den Leser behutsam von Satz zu Satz führt, von Beobachtung zu Beobachtung – Strich um Strich fügt Tokarczuk der Skizze hinzu, ruhig und klar, setzt dort einen Schatten, lässt hier etwas ausgespart. Gerade durch dieses zurückhaltende Verfahren, das die Gedanken und Gefühle, die Erinnerungen ihrer Figuren erst allmählich und in Andeutungen preisgibt, erlaubt sie dem Leser, sich ein eigenes Bild, eine eigene Chronologie zu entwerfen, vor- und zurückzugehen im Erzählten, Fragen zu stellen, Leerstellen mit Eigenem zu füllen. Und so allmählich das Geheimnis der Figuren aufzuspüren, das Geheimnis, das auch ihnen selbst lange verborgen war, das sie sich verschwiegen haben – und das auch das unsere ist.

Denn die drei Frauen sind zwar Vertriebene in ganz konkretem Sinne, untrennbar ist ihr Schicksal mit den Verwerfungen der polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft. Auf der Flucht waren oder sind sie Nomaden, denen die neuen Wohnorte nicht Heimat werden, sondern Quartier bleiben. Und je jünger sie sind, desto häufiger wechseln sie den Ort, scheinbar die an sie gestellte Forderung mühelos erfüllend, jederzeit mobil zu sein.

Aber sie sind auch Vertriebene in allgemeinerem, allgemein menschlichem Sinn. Sie haben nicht nur den Ort ihrer Kindheit verloren, sondern ihre Kindheit. Sie haben nicht nur ihre Träume verloren, sondern auch die Hoffnung, sie je wiederzufinden. Sie wurden vertrieben aus dem Paradies, das der Glaube an die Unsterblichkeit, an die Liebe ist – und gefunden haben sie vor seinen Toren nur die Resignation und mit ihr die Gelassenheit dem Verfall, dem Tod gegenüber.


Olga Tokarczuk: »Letzte Geschichten«. Roman. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006. 304 Seiten, 22,90 Euro

Die Berliner Literaturkritik, 6. November 2006

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