György Dalos »1956 – Der Aufstand in Ungarn«

14.08.2007 Sprache/Meta

György Dalos »1956 – Der Aufstand in Ungarn«Rezension

Das Versagen des Westens
György Dalos erinnert sich an den Aufstand in Ungarn 1956


Fünfzig Jahre liegen die Ereignisse des Ungarn-Aufstandes zurück. Im Herbst 2006 beging man in Budapest und in vielen europäischen Staaten eine Reihe von Gedenkveranstaltungen. Ja es gab, ausgelöst auch durch die Ereignisse im September letzten Jahres, als Details der während einer Fraktionssitzung gehaltenen Rede des Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány bekannt wurden, die zu massiven, gewalttätigen Protesten in Budapest führten, ein großes, weit ausgreifendes und sich in zahlreichen Foren und Podiumsdiskussionen, Ausstellungen und Retrospektiven, Artikeln und Interviews niederschlagendes Interesse. Dieses verdankte sich jedoch nicht allein der runden Zahl des Jahrestages.

Es schien und scheint vielmehr, dass das Jubiläum, das die Aufmerksamkeit der Politik, der Medien und Kulturinstitutionen für einen Moment auf Ungarn richtete, von einer nervösen Grundspannung gezeichnet war, die einige bis dahin verdeckt gebliebene Ursachen hatte. Bis heute, das machen die zahlreichen Publikationen, die im letzten Herbst und Winter zum Thema erschienen sind, deutlich, schmerzt da eine Wunde, die nicht heilen will, rühren die Ereignisse jenes fast zwei Generationen zurückliegenden ungarischen Herbstes nicht nur an eine Schuld des Ostens, sondern auch an ein Versagen des Westens.

Ungarn war und ist das osteuropäische (dabei geographisch betrachtet eigentlich mitteleuropäische) Lieblingskind des Westens. Es bildete hinter dem Eisernen Vorhang eine Art Insel im sonst fast durchgehend slawischen Ostblock und fühlte sich – nicht zuletzt durch die lange Bindung an Österreich – insbesondere dem deutschen Sprachraum zugeneigt und gerade von Deutschland, besser noch als von allen anderen, verstanden. In Zeiten des Kalten Krieges wurde es von dort auch gefördert und mit Aufmerksamkeit bedacht. Böse Zungen könnten behaupten, gehätschelt.

Diese besondere Hinwendung und Zuneigung war jedoch eine laue Liebe. Sie brachte dem Ungarn-Sympathisanten kaum Nachteile, geschweige denn, dass sie ihm Opfer abverlangte. Sie kostete ihn wenig außer Sprachkursen für Emigranten, Einbürgerungen und Eingliederungshilfen, ein wenig Kultur- und Übersetzungsförderung, Dissidentenunterstützung. Bloße Almosen für ein Volk, das sich, wie der Aufstand und die an ihn geknüpften Erwartungen zeigten, nach Selbstbestimmung sehnte (um nicht das große Wort Freiheit zu gebrauchen), nach Unabhängigkeit von der Sowjetunion und nach Zugehörigkeit zum demokratischen Westen – und das dabei auf dessen Hilfe angewiesen war.

Es wurde enttäuscht. Und von dieser Enttäuschung schreibt Dalos in seinem zum Jahrestag im C. H. Beck Verlag erschienenen Buch, das aus verschiedenen Perspektiven von dem spontanen Beginn und den immer chaotischer werdenden Ereignissen jener dreizehn Oktober- und Novembertage erzählt. So nüchtern wie möglich versucht Dalos, diese zu rekonstruieren – als dürfte er sich kein Urteil erlauben, als wäre es dafür noch immer zu früh, als traute er sich noch immer nicht über den Weg.

Denn in der Einleitung des Buches bekennt der Autor, wie oft schon seine Ansichten über den Aufstand gewechselt hätten: von der Trauer über die Niederlage in der Kindheit über die Verdammung als Konterrevolution in den Sechzigern bis hin zu einem distanzierten Verständnis für die Ereignisse in den siebziger und einem kühlen Blick auf sie in den achtziger Jahren.

Das Buch ist also nicht nur eine detailgetreue Rekonstruktion der Ereignisse, die – und das verrät den Schriftsteller – immer wieder in Erzählung übergeht, sondern zugleich der Versuch einer Auseinandersetzung mit dem eigenen wechselnden Standpunkt inmitten der Ereignisse und ihrer Folgen. Denn, so schreibt Dalos in der Einleitung, eines sei immer unmöglich gewesen: »den Volksaufstand aus meinem Denkprozess zu verdrängen, selbst wenn ich dies gewollt hätte“.

Doch gerade unter diesem nüchternen Blick, der nach 1989 noch einen Grad kälter und nüchterner geworden sein mag, zeigt sich, was die fehlende, nicht über Rhetorik hinausgehende Unterstützung des Aufstands durch den Westen und was seine Niederschlagung für Ungarn bedeuteten und noch immer bedeuten. Das individuelle Leben wie die Entwicklung des Landes, die sich nach 1989 deutlicher denn je als eine Fehlentwicklung herausstellte, wurden infrage gestellt und verfielen gewissermaßen einer grundlegenden Revision – und diese Revision führte zu einer depressiven Verstimmung, die, um sich vor Zynismus zu retten, in eine bittere Ironie umschlug.

Die Hoffnungen von damals (die, wie Dalos bekennt, nicht ganz die eigenen waren, aber, wäre er nur ein wenig älter gewesen, nur vier, fünf Jahre, die eigenen hätten sein können, ja müssen) werden von Dalos entblößt, skelettiert. Solange, bis nur noch die allem zugrunde liegende blauäugige Naivität zurückbleibt, die von aller Realpolitik nichts weiß, ja die den Welttatsachen gegenüber geradezu blind ist und sein will. Und doch ist, trotz des distanziert-ironischen Tons, aus Dalos’ Beschreibung noch immer die maßlose Enttäuschung und die wütende Zerknirschung über das Im-Stich-gelassen-Werden der Aufständischen durch den Westen herauszulesen, die die Passagen des »Verrats« zu den stärksten und ergreifendsten des Buches machen.

Für viele Ungarn war der Aufstand ein zweiter März ’48. Mit Petöfi- und Vörösmarty-Versen auf den Lippen liefen sie durch die Straßen, bauten sie Barrikaden, bewaffneten sie sich. 1955 hatte Österreich, das mit Deutschland im Krieg nicht nur wie Ungarn verbündet, sondern durch den hunderttausendfach bejubelten Anschluss verbunden gewesen war, die Neutralität zurückerlangt – die Wochenschau hatte die jubelnden Wiener vor dem Schloss Belvedere gezeigt. Und nach dem durch die Aufständischen erzwungenen Abzug der sowjetischen Truppen am 29. Oktober aus Budapest schien sich der Traum von der Freiheit nun endlich auch für Ungarn zu erfüllen.

Aber das war Wunderglaube. »Helft! Helft! Helft!«, sendete das Freie Radio Kossuth auf Englisch, Deutsch und Russisch am 4. November, nur sechs Tage später – zweimal wiederholte es die Bitte, während im Hintergrund das Dröhnen der Panzer und Schüsse zu hören waren. Es sollten seine letzten Worte sein. Denn wieder einmal erfüllten sich die Zeilen Petöfis: »Verlassen ist, im Stich gelassen / von feigen Völkern der Magyar ...«.

Es war nicht Feigheit, es war Realpolitik: Abwägung der Machtinteressen, Kalkulation des Kriegsrisikos, Ablenkung durch die Suez-Krise (die weit schwerer wog, da sie, im Gegensatz zu der in Ungarn, nicht abzusehende wirtschaftliche und strategische Risiken barg). Die Zurückhaltung der militärischen Führung der NATO mag Schlimmeres verhindert haben – ja vielleicht hat die leidenschaftslose, kühl-berechnende Realpolitik, wie so oft, einen neuen heißen Krieg vermieden.

Dennoch bleibt, und dafür steht Ungarn bis heute als Symbol, bei vielen der Wunsch, es wäre anders gekommen, der Idealismus hätte dieses eine Mal einen kleinen Sieg davongetragen und dieses Land wäre nicht geopfert worden. Man hätte nicht nur die 200.000 Emigranten aufgenommen und gegen die Säuberungswellen, Hinrichtungen und Straflager protestiert, sondern hätte mehr Mut bewiesen, vielleicht einen kühlen Übermut (wenn es den nicht gibt, sollte er erfunden werden!).

Was nun folgte, waren die Schauprozesse mit etwa dreihundert vollstreckten Todesurteilen, 35.000 zu Haftstrafen Verurteilten, 20.000 Internierten. Und das Zurücksinken Ungarns in die Starre hinter dem Eisernen Vorhang, die Imre Kertész als das graue »Verharren in der Wüste aussichtsloser Alltage« bezeichnet hat.

Aber Ungarn wurde zum Symbol – wie im 19. Jahrhundert Griechenland zum Symbol geworden war – und ist es bis heute geblieben. Symbol für das Scheitern – aber auch für die Hilflosigkeit, den fehlenden Mut und das Ausbleiben einer Solidarität, die über bloße Lippenbekenntnisse hinausgeht. »›Und wenn wir mitgemacht hätten?‹«, fragt Wolfgang, der Stellwerkskollege von Jakob in Uwe Johnsons »Mutmaßungen«, diesem Roman, durch den der Ungarnaufstand seine blutige Spur zieht. »Wenn sie die Militärtransporte irgendwo abgestellt hätten und den gewöhnlichen Betrieb ungestört hätten durchlaufen lassen«? Sie wären alle verhaftet worden, antwortet Jakob. Wie 1961 in Berlin. 1968 in Prag. Und 1981 in Polen.

Alle? Auch im Westen? Wäre man auch dort verhaftet worden? Wäre auch dort geschossen und gefoltert worden? Wir wissen es nicht. Denn es kam zu keinen wochen- oder monatelangen Massenprotesten aus Solidarität mit dem ungarischen, dem ost-deutschen, dem tschechischen, dem polnischen Volk, die die westlichen Regierungen gezwungen hätten, mehr Druck auszuüben – und die fremden, dem Druck nachzugeben.

Es war damals nicht so viel anders als heute, wenn in Petersburg oder Moskau die Menschen auf die Straße gehen und ihre Rechte einfordern – und erst von staatlicher Gewalt niedergeknüppelt und dann in den Gefängnissen gefoltert werden. Es ist eine Meldung in den Nachrichten, die empört. Aber ich will nicht glauben, dass es keinen Unterschied machte, wenn aus dieser stillen Empörung mehr würde – ein sichtbarer, ein lautstarker Protest.


György Dalos: »1956. Der Aufstand in Ungarn«. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla. Mit 16 Aufnahmen des Magnum-Photographen Erich Lessing. Verlag C. H. Beck, München 2006. 248 Seiten, 19,40 Euro

Die Berliner Literaturkritik, 14. August 2007

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