István Eörsi »Im geschlossenen Raum«

27.09.2006 Sprache/Meta

István Eörsi »Im geschlossenen Raum«Rezension


Schichten der Vergangenheit
István Eörsis letzter Roman »Im geschlossenen Raum«


Istvàn Eörsi, 1931 in Budapest geboren und dort im Oktober 2005 gestorben, wurde 1956 wegen Beteiligung am Ungarnaufstand zu acht Jahren Haft verurteilt, von denen er vier im berüchtigten Gefängnis „Márianosztra“ absaß. Nach seiner Entlassung kehrte er in eine andere Welt zurück: KP-Chef János Kádár hatte die diktatorischen Fesseln ein wenig gelockert, und schon hatten sich die meisten der ungarischen Intellektuellen mit dem System arrangiert; durch den geschickt ausbalancierten Wechsel von Privilegien und Schikanen wurden sie auf Linie gehalten.

Eörsi verweigerte sich dieser Zusammenarbeit. Als Folge durfte er nicht veröffentlichen, seine Stücke wurden nicht aufgeführt, die Staatssicherheit bespitzelte ihn. Er wurde zum Außenseiter, von den angepassten Kollegen gemieden. Er schrieb dennoch und hielt sich mit literarischen Übersetzungen über Wasser.

Am 8. Juli 2001 macht Eörsi sich daran, „dieses und jenes ... aus der Zeit zwischen der Entlassung aus dem Gefängnis und der Wende von 1989“ zu erzählen. Er schreibt einen Roman, „Der geschlossene Raum“, in dem ein Ich-Erzähler, der denselben Namen wie der Autor trägt (aber vielleicht dennoch nicht mit ihm verwechselt werden sollte), auftritt. Gleich zu Beginn erklärt dieser: „Ich lasse das hochverehrte Publikum im Unklaren darüber, was tatsächlich geschehen ist und was ich hinzugedichtet habe. Ich mische der Wirklichkeit Fiktion bei. Wenn ich überlege und mit sicherem Instinkt formuliere, kommt vielleicht ein Mehr an Wahrheit aus mir heraus.“

Die Insel als Metapher

Es ist also eine Art Autobiografie mit fiktionalen Elementen, die Eörsi schreibt (und die jetzt auch auf Deutsch erschienen ist). Zu diesem Zweck erfindet er ein Alter Ego – Borsi, einen Dichter, Dramatiker und Übersetzer, der ihm ähnlich und doch von ihm verschieden ist und dem er die Erfahrung von zwölf weiteren Lebensjahren voraushat – denn die Geschichte Borsis führt nur bis in den Juni des Jahres 1989, dem Monat, in dem der unter Kádár hingerichtete Imre Nagy posthum rehabilitiert wurde und seine feierliche erneute Beisetzung stattfand – wenige Wochen vor der Implosion der sozialistischen und kommunistischen Regime im Osten Europas.

Borsi lebt zu diesem Zeitpunkt im Haus eines Freundes auf einer Donauinsel fünfzehn Kilometer von Budapest entfernt, an einem Ort, an den er sich schon häufig zurückgezogen hat. Dort bekommt er Besuch von einer Journalistin, Erzsébet, die im Auftrag des „Times Literary Supplement“ ein Interview mit ihm führen soll. Erzsébet, selbst Ungarin, lebt im Ausland; sie hat in Deutschland studiert, ist mit einem Engländer verheiratet, pendelt jetzt zwischen Brighton und Düsseldorf, wo ihr Mann an der Universität arbeitet. Es ist ihr erstes Interview, und sie will es gut machen.

Gegenstand des Interviews soll Borsis über zwanzig Jahre in Ungarn verboten gewesenes Stück „Im geschlossenen Raum“ sein, dem jetzt, wie man im Laufe des Romans erfährt, ein Preis zuerkannt wurde. Der Titel des Stücks – und des Romans – ist nicht nur eine Metapher für das Gefängnis, in dem Borsi einsaß, sondern ebenso für die Gesellschaft hinter dem Eisernen Vorhang – und zugleich spielt sie auf die Erzählsituation 1989 an: Auch die Insel ist ein geschlossener Raum, aus dem man nicht fliehen kann, in dem man miteinander auskommen muss, und das nicht erst, seitdem die letzte Fähre gefahren ist. Das Interview, so lässt sich hinzufügen, ist seiner Struktur nach ein auf humanere Art wiederholtes Verhör. Es scheint, dass Borsi den ihn prägenden Erfahrungen seines Lebens – Zelle und Verhör – nicht zu entkommen vermag.

Das Interview

Eigentlich will Erzsébet mit Borsi nicht über sein Leben sprechen, über seine Frauengeschichten, seine Freunde, aber der lebenslange Aufenthalt im „geschlossenen Raum“ bringt es mit sich, dass Borsi nicht unterscheiden kann zwischen privatem Leben, geschriebenen Texten und politischer, gesellschaftlicher Situation. Alles greift ineinander, weil er nicht hinaus ins Freie treten kann und weil der Staat auch vor den eigenen vier Wänden nicht haltmacht.

Die beiden sitzen also auf der Insel, trinken Rotwein, und Borsi erzählt. Und diese seine Rückblenden in verschiedene Schichten der Vergangenheit, mal als wörtlich mitgeteilter Monolog, mal als gerafft wiedergegebene indirekte Rede, bilden die umfangreichste Zeit- und Erzählebene des Romans. Das Problematische an dieser Konstruktion – zwei lockere Rahmen und das von ihnen Gerahmte – ist, dass sie dazu verführt, anstelle wirklichen Gesprächs, das aus den vorangegangenen Handlungen folgt, beziehungsweise zu zukünftigen hinführt, Sentenzen aufeinanderzuhäufen; Borsis Erzählungen sind Konfessionen, leider jedoch die eines recht eitlen Mannes, der die Lebensweisheiten selbst da, wo er nicht weiterweiß, noch mit Löffeln gefressen zu haben meint.

Ein paar Seiten erträgt man das, ohne zu klagen, dann jedoch macht sich Langeweile breit: Den Charakter hat man erfasst, die politischen und privaten Ereignisse von Borsis Lebens sind umrissen, seine Anklagen, fremde und eigene Schuld, bekannt, es folgen lediglich immer nur weitere Episoden, die jedoch kaum etwas Neues zu bieten haben – und nicht nur auf inhaltlicher Ebene beginnt man sich zu langweilen. Keine brillante Sprache entschädigt für die Redundanzen, keine intelligente Ironie wirft erhellende oder verblüffende Schlaglichter auf das Erzählte, keine der für Borsis Leben wichtigen Begegnungen, Erfahrungen führt zu einem Geheimnis, das im Dunkeln bleiben darf. Und selbst die kleinen erotisch aufgeladenen Schwenks, die Scharmützel zwischen Borsi und seiner Interviewerin, wirken müde und lustlos.

Schuldhafte Verstrickung

Eindrucksvoll dagegen sind die wenigen Seiten, auf denen der Ich-Erzähler die Geschichte seines von ihm bewunderten Bruders erzählt. Neun Jahre älter als der Erzähler, kann er sich der Einsicht in die verwickelte Kette aus Ursachen und Folgen der von deutschen Soldaten und ungarischen Pfeilkreuzlern begangenen Gräueltaten an den Juden (er gehört selbst zu ihnen) nicht entziehen: Nach dem Krieg legt er ein Bekenntnis zum Kommunismus ab, aus Dankbarkeit für die Befreier – dahinter verbergen sich jedoch unausgesprochene Rachegefühle ebenso wie der Wunsch, das Erlebte nie wieder zuzulassen.

Und damit beginnt die Verstrickung in eigenes Schuldigwerden, er muss zu den neuen Gräueln schweigen, er muss sich mit der Staatssicherheit einlassen, um den wegen „Konterrevolution“ einsitzenden Bruder zu schützen. An diesem knapp erzählten Beispiel macht Eörsi einfühlsam deutlich, worauf es ihm auch im Rest des Buches ankommt: dass unter den Bedingungen des „geschlossenen Raums“ jeder schuldig wird und hätte er die lautersten Absichten.

Der doppelte Rahmen ist auf den ersten Blick ein formal interessantes Instrument, aber er bringt bei Eörsis Handhabe zu wenig ein. Er führt nicht zu einer raffinierten Verschachtelung der verschiedenen Zeiten und Personen, nicht zu einer Steigerung der Komplexität, sondern, da die Konstellation der zweiten Ebene, der Interviewsituation, zu wenig hergibt, immer wieder zu einem Spannungsabfall in banale Alltagssituationen. Von einem Dramatiker hätte man anderes erwartet.

Regieanweisungen

Das Merkwürdige ist, dass Eörsi dies selbst bemerkt hat, denn er lässt den Erzähler- Eörsi, der den Interviewrahmen ab und an unterbricht und über das Erzählte reflektiert, sagen: „Sie [Erzsébet und Borsi] sitzen am runden Eisentisch in der Sonne. Um das erneut niederschreiben zu können, muß ich erst meine Bedenken überwinden. Ich weiß, daß wiederkehrende Situationen die Aufmerksamkeit des Lesers erschlaffen lassen. Ich könnte auch sagen, sie sind langweilig. Allerdings habe ich meine Figuren von vornherein auf eine Insel verbannt, einen Schauplatz, der ebenso abgeschlossen und abwechslungsarm ist wie der Raum, in dem das Stück spielt, über das sie reden wollen. Damit habe ich mich weitgehend festgelegt [...].“

Ja, leider, möchte man ausrufen – aber das ist doch kein Grund, es nicht zu ändern. Ein Roman ist kein Drama: Was dieses in die Regieanweisungen verbannt, um es dann in der Aufführung zu zeigen, wird dem Leser hier jedes Mal als Text präsentiert, der dieselbe Aufmerksamkeit verlangt. Mag sein, dass Eörsi dadurch den „geschlossenen Raum“ auch für den Leser hat spürbar werden lassen wollen, unangenehm spürbar. Aber der Leser befindet sich in keinem „geschlossenen Raum“, er kann ihn jederzeit verlassen, indem er das Buch zuklappt.

Kleist hat 1811 in einem kurzen Aufsatz für die „Berliner Abendblätter“ erklärt, „daß der Gedanke zu unsern vollkommensten Kunstwerken ... bei der Lektüre schlechter ... entstanden ist“. Das ist wahr, denn nur dort fällt einem sofort auf, wie etwas „gemacht“ ist. Ich möchte dem Leser jedoch, angesichts begrenzter Lebenszeit, empfehlen, den Roman von István Eörsi auszulassen und sich stattdessen dem sprachlich wie formal meisterhaften Roman „Der Komplize“ von György Konrád zu widmen, der dieselbe Thematik zum Gegenstand hat.


István Eörsi: »Im geschlossenen Raum«. Roman. Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Mit einem Nachwort von György Konrád. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 324 Seiten, 22,80 Euro

Die Berliner Literaturkritik, 27. September 2006

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